Zu Heinrich von Kleist: Johannes Grützke zu "Michael Kohlhaas", Anke Feuchtenberger zu "Die Marquise von O....", Martin Grobecker zu "Der Findling":
Es ist eines der Bücher, die die Büchergilde sich selbst, das heißt ihren Mitgliedern, zur Feier des 90jährigen Bestehens schenkt. Es soll zeigen und zeigt, wie moderne Buchkunst aussieht – anhand von drei Künstlerhandschriften aus drei Generationen, die Texte eines klassischen Autors qua zeitgemäßer zeichnerischer Interpretationen ins Heute holen. Jeder Künstler hat dem von ihm interpretierten Text ein kurzes Statement zu den eigenen Intentionen vorangestellt. Das Buch ist handlich, ein Gebrauchsbuch, nicht nur für die Preziosen-Abteilung des Bücherschranks (dafür eignet sich die Vorzugsausgabe…), sondern zum Lesen, in geprägtes Leinen gebunden, das von drei unterschiedlich großen Buchbinden zu dreiviertel verdeckt wird wie durch drei abgestufte Schutzumschläge – für jeden Künstler ein eigener Umschlag. Wenn man diese entfernt, kommen die goldfarben ins Leinen geprägten Künstlersignaturen zum Vorschein. Der Text ist, um die schwarz-weißen Bildern herauszuheben, in einem kupferfarbenen Ton gedruckt.
Seit vielen Jahren „kämpfe“ ich in dem Gremium der Büchergilde, das über die Auswahl der zu illustrierenden Texte diskutiert und entscheidet, für eine zeitgemäße Ausgabe des Michael Kohlhaas von Heinrich v. Kleist. Denn ich bin der Meinung, dass dieses Buch – neben Lessings Nathan der Weise und Goethes Faust – zu den absolut unentbehrlichen Beiträgen der deutschen Literatur zur Debatte um das Wesen des Menschen gehört: Der Kampf um Gerechtigkeit, dessen Berechtigung jeder einsieht, und dessen durch Maßlosigkeit bedingtes Umschlagen in neues Unrecht ist heute so aktuell wie 1532, als der historische Hans Kohlhase wegen zweier zu Unrecht beschlagnahmter Pferde halb Wittenberg anzündete oder 1810, als die Kleist‘sche Novelle erschien.
Dass es dabei dann gar nicht mehr um den tatsächlich erlittenen materiellen Schaden geht, sondern um das Gefühl der Kränkung, dass sich nämlich andere anmaßen, das eigene Schicksal mit Füßen zu traktieren, das lässt sich nach meinem Empfinden zu allen Zeiten im Leben einzelner Menschen ebenso wie bei Staaten und Religionsgemeinschaften vorfinden. So ist dieses Buch für mich ein kluges Plädoyer für den Respekt vor jedwedem Individuum, auch als beste Prävention vor menschlichen und gesellschaftlichen Katastrophen.
Johannes Grützke, der eine große Anzahl kleiner Bleistiftzeichnungen zum Buch geschaffen hat, legt Wert auf die Feststellung, dass es sich bei diesen Arbeiten keineswegs um Illustrationen handelt – sondern um Ergebnisse seiner individuellen Ergriffenheit von Kleists Stoff. Im Gespräch ergab sich, dass auch er diesen Text schon lange im Auge hat. Grützke, 1937 in Berlin geboren, gehört zu den bedeutendsten deutschen Künstlern der Gegenwart. Als Maler, Bühnenbildner und Grafiker, der seine Radierungen auch schon mal mit dem Diamanten ins Kupfer ritzt, ist er selbst ein Klassiker.
Unsere Ausstellung zeigt seine Originalzeichnungen zum Buch, die in der Regel mit Bleistift auf Papier 21 x 15 cm gezeichnet und mit rotem, Farbstift monogrammiert sind. Sie sind im Maßstabs 1 : 1 im Buch abgebildet. Sie kosten je ca. 400 Euro. Die Ausstellung wird ergänzt durch zahlreiche Druckgrafiken von Johannes Grützke aus den letzten Jahren sowie ein Ölbild, das jetzt während der Arbeiten zu Kleist entstanden ist und das Kohlhaas mit seinem Pferd zeigt.
Die Novelle "Die Marquise von O…" handelt ebenfalls vom Umgang – vor allem auch familiärer Umgebung – mit erlittenem Unrecht. In Kriegswirren wird eine junge Frau von ihrem vermeintlichen Retter vor soldatischen Übergriffen vergewaltigt, eine Ohnmacht erspart ihr das Miterleben. Daher wird sie von der anschließenden Schwangerschaft selbst überrascht. Per Zeitungsannonce sucht sie den Vater! Von ihrem eigenen Vater wird sie verstoßen. Wie die Geschichte ausgeht, wird hier nicht verraten.
Wir wollten für die visuelle Interpretation dieses Textes unbedingt Anke Feuchtenberger haben – aber die Kleistliebhaberin hegte Zweifel an der Notwendigkeit,
eine Erzählung, die vom Verschweigen handelt, zu bebildern. Sie hätte lieber die Dramen illustriert, die in jedem Fall dafür gemacht sind, dass man sie bebildert, auf der Bühne oder sonst wie.
Dass sich die Künstlerin letztendlich trotzdem den Text anverwandelte, und wie grandios, das bestätigt Grützkes These von Berührtheit des Künstlers: Anke Feuchtenberger geht eben nicht affirmativ, dienend mit der Geschichte um, sondern begibt sich in eine intensive Auseinandersetzung. Dies zeigt schon allein die Größe der im Buch auf 21 x 27 cm (aufgeschlagene Doppelseite) abgebildeten Original-Kohlezeichnungen Feuchtenbergers: sie messen 59 x 83,5 cm!
Feuchtenberger wurde 1963 in Ost-Berlin geboren. Von 1983 bis 1988 studierte sie an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Kurz vor dem Fall der Mauer gründete sie mit Henning Wagenbreth, Holger Fickelscherer und BECK die Berliner Künstlergruppe „PGH Glühende Zukunft“, deren Künstler die Einflüsse des Expressionismus und der Bildsprache des Comics zusammenführten. Seit 1997 ist sie Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, wo sie vor allem auf junge Künstlerinnen stilbildend wirkt. Bei der Büchergilde erschien von Anke Feuchtenberger das „Tolle Heft“ Die Skelettfrau (vergriffen).
Die dritte Novelle, "Der Findling", handelt – vom Umgang mit erlittenem Unrecht. Ein Kaufmann, der seinen Sohn an die Pest verloren hat, nimmt einen Waisenknaben an dessen statt an, dem er nach und nach sein ganzes Vermögen überschreibt. Der lohnt es ihm schlecht und vergeht sich an seiner Stiefmutter, die an den Folgen stirbt. Der Kaufmann erwürgt seinen Ziehsohn und lehnt auf dem Schafott die Absolution ab, ohne die er nicht zu Gott kommen kann, weil er den Übeltäter auch in der Hölle weiter verfolgen will.
Martin Grobecker, der die Zeichnungen zu diesem Text geschaffen hat, wurde 1982 in Hannover geboren. Er studierte an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim Illustration und Druckgrafik und 2009 an der Universitat Politècnica de València/Spanien klassische und moderne Wandmalerei. Der begabte Zeichner schuf für den Büchergilde artclub mehrere Druckgrafiken. Für seine Arbeiten zum Findling benutzte er einen Kalligrafie-Stift.
Sie haben sicher bemerkt, dass mir dieses Buch, zu dem ich ein Vorwort schreiben durfte, sehr am Herzen liegt. Ich bin sehr stolz, dass es uns gelungen ist, im 90. Jahr des Bestehens mit diesem Kunststück die Existenzberechtigung der Büchergilde im 21. Jahrhundert so eindrucksvoll unter Beweis zu stellen. Zu danken ist es den Künstlern, aber vor allem auch der couragierten neuen Herstellungsleiterin der Büchergilde, Cosima Schneider, die für die fulminant schöne Ausstattung des Buches verantwortlich zeichnet.
Wolfgang Grätz, 193. Frankfurter Grafikbrief November 2014