Hans Jürgen Reichelt
Die Welt durch die Brille des Antiquars. Radierungen
Mein fester Glaube, dass gute Künstler, schon gar in der Druckgrafik, nicht automatisch auch weltbekannt sein müssen, führt mich, sooft es geht, auf von Bundesländern für ihre Landeskinderkünstler ausgerichtete Künstler-messen. Auf einer solchen entdeckte ich im Herbst 2014 in Dresden den Radierer Hans-Jürgen Reichelt. Und staunte nicht schlecht darüber, dass ein Künstler mit einem derart ausgefeilten und umfangreichen Werk eher nur regional ausstellt.
Reichelt, 1956 in Obernhau/Erzgebirge geboren, studierte 1979 bis 1982 Restaurierung für baugebundene Kunst in Potsdam. Bis 1986 arbeitete er als Museumsrestaurator, dann beginnt seine freie künstlerische Arbeit, vor allem in der Radierung. Von 1999 bis 2016 lebte er in Dresden, nun ist er in ein von ihm restauriertes Bauernhaus im Umland der Stadt Nossen gezogen.
Restaurieren baugebundener Kunst, das hieß ja z.B. Schäden in Wandgemälden anderer Künstler kongenial auszubessern. Dazu muss der restaurierende Künstler in eine andere „Handschrift“ schlüpfen. Und so ähnlich empfindet man auch die – in unverwechselbar eigenem Stil daher-kommenden – Radierungen Reichelts, ein bisschen so, als habe man sie schon mal gesehen. In seinen Bildtiteln findet man dann den Schlüssel: Da heißt es z.B. „Der Antiquar in Kalkutta“ oder „Der Antiquar vor Rotterdam“. Ja, das ist es, die Bilder wirken ein bisschen wie Illustrationen aus alten Reiseberichten.
Und sind doch alles andere als reale Abbilder der Welt. Nicht umsonst trägt eine Grafik den Titel „Der große Traum des Antiquars“: Viele Radierungen wirken tatsächlich wie erträumt, es sind Visionen von phantastischen Landschaften, die manchmal aussehen wie aus einer Spielzeugkiste zusammengestellt, oft exotisch, hell, transparent – friedlich. Aber ohne einlullende Kitschattitüde, sondern immer gebrochen durch die surrealen Einsprengsel, die irritieren und klarmachen: Ja, aber so ist es eben nicht in der Realität.
Hans Jürgen Reichelt ist ein großartiger Fabulierer, und natürlich gab es zur Antiquar-Serie eine Art Erweckungs-erlebnis, als ein Antiquar mit einem entsprechenden Buch die Initialzündung bei ihm auslöste. Allein die Bildtitel lassen vor dem inneren Auge auch ein romantisches Bild des Antiquars selbst aufscheinen, einem bisschen verschrobenen Hüter alter Mythen, Bilder und vergessenen Wissens. Sieh mal an, was wir für Bilder in uns tragen…
Hans-Jürgen Reichelt vermag es, auch durch seine handwerkliche Brillanz, diese unsere inneren Bilder zum Vorschein zu bringen. Was für eine Kunst!
Wolfgang Grätz, 205. Frankfurter Grafikbrief, zur Ausstellung Hans-Jürgen Reichelt