Lost Places

Warum mögen wir eigentlich künstlerische Landschaftsdarstellungen, wenn es doch auch reichen würde, aus dem Fenster zu schauen oder an den Stadtrand zu fahren? Die Frage hätten sich die Menschen vor der Renaissance wohl auch gestellt, denn heute gilt Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336, die dieser in seiner gleichnamigen Abhandlung schilderte, als die erste emotional aufgeladene Landschaftsbetrachtung. Sie wird als Beginn des modernen Naturgefühls gewertet. Petrarca zeigte sich bei Erreichen des Gipfels überwältigt von der Schönheit der Welt, die sich vor ihm ausbreitet...

Er war demnach der Erste, der die Landschaft aus rein ästhetischen Gründen betrachtete, d. h. er stieg weder aus militärstrategischen Motiven auf einen Berg, noch weil es der kürzeste Weg zu einem angestrebten Ziel gewesen wäre, sondern ausschließlich, um den Fernblick zu genießen und ihn ohne konkrete Absichten in der Landschaft schweifen zu lassen.

Um solchen Genuss auch durch die Bildende Kunst zu ermöglichen, bedurfte es aber erst der durch Brunelleschi (1377 – 1446) und andere entdeckten Linearperspektive, mittels der es gelang, den dreidimensionalen Raum einer Landschaft auf der Bildebene darzustellen. Die früheren Möglichkeiten der Malerei hatten nicht ausgereicht, um mit Landschaftsbildern Gefühle auszulösen.

Der italienische Humanist Leon Battista Alberti (1404 –1472) analysierte 1452, dass der Anblick von Natur und von Naturbildern entspannend auf die Seele wirke, Harmonie erschaffe und den Einklang mit der kosmischen Ordnung bekunde. Von dem ihm nachfolgenden italienischen Künstler und Kunsthistoriker Giorgio Vasari (1511 – 1574) wissen wir, dass Naturbilder im 16. Jhd. den Menschen eine solche Freude bereiteten, dass sie zur Massenware für die bürgerlichen Schichten in den Städten geworden waren.

Hier ging es natürlich immer um weitgehend idealisierte Landschaften und dazu solche, die sich der normale Renaissancebürger nicht durch Reisen erschließen konnte. Erst im frühen 19. Jahrhundert zeigte sich bei Malern in England, Deutschland und Frankreich ein verstärktes Interesse an einer realistischen Landschaftsdarstellung, z.B. bei Adolph Menzel, der als einer der Ersten Industrielandschaften malte, oder bei Gustave Courbet, der auch Abstoßendes und Hässliches in seinen Bildern nicht aussparte.

Im Impressionismus wird die Malerei leicht und luftig, bestimmt von den Spielen des Lichts auf der Natur. Man malt nun nicht mehr nur im Atelier, sondern geht hinaus ins Freie, um sich beim Malen direkt den Eindrücken der Umgebung auszusetzen. Die Wahrnehmung der Dinge wird wichtiger als ihre Bedeutung. Wohl bekanntester Vertreter dieser Art von Malerei ist Claude Monet.

Im Expressionismus spielt die Landschaft eine nachgeordnete Rolle, der Mensch steht im Mittelpunkt der Kunst. An die Stelle der Licht- und Farbenspiele der Impressionisten treten menschliche Gefühle, die mit Hilfe der Landschaft ausgedrückt werden sollen. Die Landschaft fungiert nunmehr als Begleiterscheinung menschlichen Geschehens und bringt vielfach die Stimmung (die „innere Landschaft“) des Künstlers zum Ausdruck.
In der zeitgenössischen Kunst existieren alle Schattierungen von Landschaftsdarstellungen nebeneinander. Ziel ist es, beim Betrachten landschaftlicher Stimmungen innere Stimmungen in uns wachzurufen. Farben und Formen bewegen unser Gemüt und rufen in uns Lust- oder Unlustgefühle hervor. Sie erinnern uns an bestimmte Situationen. An bestimmte Orte. Oder aktivieren Sehnsüchte.

Für unsere Ausstellung mit Landschaftsdarstellungen haben wir den Ausschnitt „Lost Places“ ausgewählt. Das ist ein Pseudoanglizismus und bedeutet sinngemäß „vergessener Ort“. (Der korrekte Ausdruck im umgangssprachlichen Englisch lautet „off the map“.) Der Ausdruck Lost Place wird zwar häufig gleichbedeutend mit Ruinen aus der Industriegeschichte oder nicht mehr genutzten militärischen Anlagen gebraucht, passt aber eigentlich für alle Orte, die im Kontext ihrer ursprünglichen Nutzung in Vergessenheit geraten sind. Sie bieten auch die Möglichkeit, in einer weitgehend durchdesignten Welt noch selbst auf „Entdeckungsreise“ zu gehen und dabei Geschichte hautnah zu erleben oder auch wieder ins allgemeine Bewusstsein zu heben, wie z.B. Susanne Theumer das tut.

Künstlerisch sehen wir eine große Bandbreite: von den immer menschenleeren Landschaften von Wolfgang Werkmeister über die Trümmer deutscher Nachkriegslandschaft in den Bildern von Franz Theodor Schütt bis zu den prosaischen Stadtlandschaften von Ursula Strozynski, die, statt zu deprimieren, melancholische Erinnerung an den untergegangenen Wildwuchs früherer Stadtbilder wecken, der rechteckverliebten Architekturlangweilern weichen musste. Oft wählen die Künstler/innen als Metaphern für den Kulturverlust maritime Symbole – die verlassene Anlegestelle, das gestrandete und aufgegebene Schiff, die Einsamkeit des einzelnen Menschen auf dem Wasser. Oder es geht einfach um die Abbildung des Prosaischen.

Die Ausstellung zeigt Bilder von Susanne Theumer, Ursula Strozynski, Jürgen Gerhard, Franz Theodor Schütt, Wolf-gang Werkmeister, Roland Venske, Manfred Butzmann, Valeska Zabel, Hans-Jürgen Reichelt, Jürgen Wölbing, Harald Alff und anderen, die Schwerpunkt-Künstler/inne/n möchte ich kurz vorstellen:

Susanne Theumer
Die Künstlerin hat einen Werkschwerpunkt im Thema Lost Places, das Aufspüren, Recherchieren und Dokumentieren der Orte und ihrer Geschichte ist Teil des Kunstwerks, das direkt vor Ort entsteht:

„In die Lost Places, wenn es Gebäude sind, steige ich im-mer ein, es klappt fast immer, auch wenn es verboten ist. Und einmal hatte ich auch Polizeibesuch...Doch es muss vor Ort geschehen! Diese Größen (der Zeichnungen) sind auf dem Boden sitzend händelbar. Ca. 3 Stunden arbeite ich vor Ort daran, mit den großen Radierplatten gehe ich meistens mehrere Tage an dieselben Stellen und arbeite daran weiter. Vor Ort ist die Stimmung, sind die Geräusche, die Begegnungen mit anderen (neugierigen) Beobachtern und Tieren (!), das Licht, das Wetter insge-samt, das Erfühlen des Ortes etwas ganz Wesentliches und Authentisches, alles muss in die Zeichnung. Ich höre oft von Leuten, dass sie genau das spüren, ohne dass ich es schon gesagt hätte, das freut mich immer. Nur das Wenigste bearbeite ich im Atelier weiter, oder in der Druckwerkstatt.“
Susanne Theumer, 1975 in Halle/Saale geboren, lebt und arbeitet in Höhnstedt im Seegebiet Mansfelder Land.

Ursula Strozynski
Was ihr als Motiv ins Auge fällt, das wirft sie mit wenigen kargen Strichen aufs Papier – könnte man pathetisch sagen. Das mit dem „Werfen“ wird bei der Kaltnadelradierung sowieso nichts, aber der Strich muss auf Anhieb sitzen. Die sparsame, aufs Äußerste verknappte Bild-sprache erweckt schnell den Eindruck von Sprödigkeit und Lakonie, ja, auch Melancholie. Und die dominiert fast all ihre Grafiken. Neu ist ihre Arbeit in der Technik der Mono-typie: Dazu ritzt sie ihre Motive in eine Kunststoffplatte, die aber in mehreren Farben nicht in der Druckpresse, sondern mithilfe einer kleinen Handwalze abgezogen wird. Das nicht Berechenbare dieses Vorgangs macht jeden Druck zum Unikat, die reine „Handarbeit“ hat ihre ganz eigene Aura.
Ursula Strozynski, 1954 in Dingelstädt/Eichsfeld geboren, lebt und arbeitet in Berlin.

Franz Theodor Schütt
Die Arbeiten des 1908 in Berlin geborenen, aber in Stettin aufgewachsenen Künstlers begeisterten mich schon als Jugendlichen, der eine große Retrospektive im Wiesbadener Museum gesehen hatte. Folgerichtig war er der erste Künstler, dessen Bilder ich in der dortigen Büchergilde-Kellergalerie ausstellte, als ich deren Leitung 1987 übernahm. Schütt, der als Kritischer Realist Ärger mit den Nazis hatte, verlor bei einem Bombenangriff auf Stettin im 2. Weltkrieg sein gesamtes Vorkriegswerk. Er wurde zu dieser Zeit schon international gesammelt und ist z.B. neben Renoir, Cézanne, Matisse und Picasso in der berühmten Barnes Foundation Philadelphia vertreten. Nach dem 2. Weltkrieg lebte er in Wiesbaden, konnte jedoch in der von der Abstraktion dominierten Westkunstszene nicht wirklich reüssieren. Er blieb unbeirrt dem Realismus treu, prangerte in seinen Arbeiten schon früh Umweltzerstörungen an und hielt die Erinnerung an die schrecklichen Zerstörungen des Krieges wach. Schütt starb 1990 in Wiesbaden.

Jürgen Gerhard
Der Künstler wurde 1947 in Leipzig geboren, wo er auch eine Schriftsetzerlehre absolvierte. Als solcher war er ab 1966 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst tätig, um schon zwei Jahre später dortselbst u.a. bei Werner Tübke zu studieren. Seit 1973 arbeitet er als frei-schaffender Künstler, zunächst in Hohen Neuendorf, seit 2015 lebt er in Oranienburg. Einen seiner Lost Places hat er in der Radierung „Marathon“ von 1980 porträtiert: Vor einer unschwer als die Berliner Mauer zu identifizierenden Grenzanlage sind Trümmer einer klassischen Säule zu sehen. Wohlgemerkt, das Untergangsymbol befindet sich diesseits der Mauer! Das war prophetisch und brauchte 1980 Mut!

Hans Jürgen Reichelt
Der 1956 in Obernhau/Erzgebirge geborene Künstler stu-dierte 1979 bis 1982 Restaurierung für baugebundene Kunst in Potsdam. Bis 1986 arbeitete er als Museumsrestaurator, dann beginnt seine freie künstlerische Arbeit, vor allem in der Radierung. Von 1999 bis 2016 lebte er in Dresden, seitdem in einem von ihm restaurierten Bauern-haus in einem kleinen Dorf nahe der Stadt Nossen. Schon wegen seines parallel immer weiter ausgeübten Berufs als Restaurator alter Häuser ist er sozusagen berufsmäßig auf der Suche nach Lost Places, deren reales Abbild sich in seine Radierungen findet, es gibt sie aber auch als fantasierte Orte des durch seine Bilder reisenden Antiquars…

Harald Alff
Der 1964 in Leipzig geborene Künstler, Meisterschüler von Karl-Georg Hirsch an der dortigen HGB, ist so etwas wie der Porträtist von Stadtlandschaft an sich. In raffinierter Holzschnitttechnik, die seine Straßenbilder aus feinsten Helligkeitsabstufungen der immer gleichen Farbe entstehen lässt, gibt er dem prosaischen Stadtalltag Gestalt. Der Lost Place, den wir von ihm in die Ausstellung gehoben haben, ist – die Straße An der Staufenmauer in Frankfurt, wo unsere Buchhandlung beheimatet ist. Verloren ist hier die alte Frankfurter Judengasse, die nach den Zerstörungen des 2. Weltkriegs ersetzt wurde durch eine vollkommen gesichtslose Neubebauung, in der nichts mehr an das pulsierende Leben der Vorkriegszeit erinnert. So schön unsere unmittelbare Nähe zum Frankfurter Zentrum Zeil, so nützlich das Sackgassendasein für eine erschwingliche Ladenmiete direkt in der Innenstadt ist, so bedauerlich ist das absolute Ausradieren aller Spuren des historischen Ortes. Keine Reminiszenz.

Wolfgang Werkmeister
Der 1941 in Hamburg geborene Radierer ist mit einigen Exponaten in der Ausstellung vertreten, weil er über viele Jahre mit der Radierplatte im Gepäck einsame Gegenden z.B. auf den Kanaren vor Ort porträtiert hat, die durch die Vulkanausbrüche jegliches Leben verloren haben.

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Franz Theodor Schütt – Memento

Öl auf Leinwand 1985

Ursula Strozynski – Großer Giebel II

Kohle 1993

Ursula Strozynski – Steg

Monotypie 2021

Ursula Strozynski – Boote

Monotypie 2018

Ursula Strozynski – Steg im Nebel

Monotypie 2021

Ursula Strozynski – Bahnhof Halle

Kohle 1997

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Ursula Strozynski – Brücke über die Spree

Kohle/Tusche 1993

Ursula Strozynski – Schlossplatz (Dresden)

Orig.-Kaltnadelradierung 2007

Ursula Strozynski – Fischerhütte I

Orig.-Kaltnadelradierung 2021

Ursula Strozynski – Ufer

Monotypie 2022

Ursula Strozynski – Boot

Orig.-Kaltnadelradierung 2005

Susanne Theumer – Im alten Schlacht-
hof I

Kohle, Unikat 2022

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Susanne Theumer – Das alte Bad am Petersberg

Kohle, Unikat 2022

Susanne Theumer – Der alte Schlacht-
hof I

Kohle, Unikat 2022

Susanne Theumer – Die große Halle im alten Schlachthof II

Kohle, Unikat 2022

VERKAUFT!

Susanne Theumer – „Liebeslied“ zu Bobrowski

Orig.-Kaltnadelradierung

Susanne Theumer – „Lied“ zu Gundermann

Orig.-Kaltnadelradierung

Susanne Theumer – „Die Stille“ zu Rilke

Orig.-Kaltnadelradierung

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Susanne Theumer – Am Goldberg

Orig.-Kaltnadelradierung

Susanne Theumer – Schaukeln

Orig.-Kaltnadelradierung

Susanne Theumer – Im Wald

Orig.-Kaltnadelradierung

Susanne Theumer – Bruchpappeln in Wormsleben

Orig.-Kaltnadelradierung

Reimar Venske – Alte Fabrik an der Spree

Orig.-Radierung, handkoloriert

Hans-Jürgen Reichelt – Das Erbstück des Antiquars

Orig.-Radierung

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Hans-Jürgen Reichelt – Das Efeuhaus

Orig.-Radierung

Jürgen Gerhard – Venedig III

Orig.-Kaltnadelradierung 2004/09

Jürgen Gerhard – Marathon

Orig.-Kaltnadelradierung 1980

Jürgen Gerhard – Das Rosenhaus

Orig.-Kaltnadelradierung 1980

Jürgen Gerhard – Bei Dassow (Mecklenburg)

Orig.-Kaltnadelradierung 1979

Jürgen Gerhard – Kanalbrücke

Orig.-Kaltnadelradierung 1979

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Jürgen Gerhard – Bauernhof

Orig.-Kaltnadelradierung 1980

Jürgen Gerhard – Buhnen bei Ahrenshoop

Orig.-Kaltnadelradierung 1977

Jürgen Gerhard – Auf der Spree II

Orig.-Kaltnadelradierung 1982

Antje Wichtrey – Abschied

Orig.-Farbholzschnitt

Hans-Jürgen Reichelt - Am Gasthof zum Schwarzen Hund

Orig.-Radierung

Christine Ebersbach - Steg

Orig.-Farbholzschnitt 2017

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Wolfgang Werkmeister – Fjordlandschaft III

Original-Radierung

Hans-Jürgen Reichelt - Die alte Webkammer

Orig.-Aquatintaradierung

Hans-Jürgen Reichelt - Der Spiegel

Orig.-Aquatinta-Radierung

Harald Alff – An der Staufenmauer

Farbholzschnitt 2014

Valeska Zabel – Das Haus

Radierung/Carborundum

Hartmut R. Berlinicke - Romantischer Textspeicher

Farbradierung

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Uta Zaumseil - Ohne Titel

Farbholzschnitt

Franziska Neubert - Garagen

Orig.-Farblinolschnitt

Franziska Neubert - Haltestelle

Ori.-Farblinolschnitt

Wolfgang Werkmeister – Havalanger viddu

Radierung

Franz Theodor Schütt - Baum und Laternen

Ölmonotypie

Franz Theodor Schütt – Gerümpel

Ölmonotypie

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Jaroslaw Nowak - In Shadow II

Aquatintaradierung

Jaroslaw Nowak - Time For Reflection

Aquatintaradierung

Franz Theodor Schütt – Memento III

Orig.-Radierung 1979

Franz Theodor Schütt – Memento I

Orig.-Radierung 1979

Jürgen Wölbing - Eine deutsche Liebe zur Landschaft

Orig.-Farblithografie

Eva Pietzcker - Unter der Spreebrücke

Orig.-Farbradierung