Susanne Theumer

1975 geboren in Halle/Saale, 1993 bis 2002 Studium im Fachbereich Graphik bei Prof. Frank Ruddigkeit und Prof. Thomas Rug an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein Halle/Saale, seit 2004 freischaffende Künstlerin. 

Warum brauchen wir Kunst, Bildende Kunst in unserem Leben? Zur Spiegelung unseres individuellen, gesellschaftlichen und räumlichen Daseins, zur visuellen Auseinandersetzung mit fremden Erfahrungen und Sichtweisen, als ethisches und ästhetisches Leitbild. Für die einen dieses mehr, für andere jenes weniger, für Dritte vielleicht auch noch ganz etwas anderes. 

Susannne Theumer schreibt zur Motivation ihrer künstlerischen Arbeit: "Drei große Themen beschäftigen mich seit langem schon in meinen zeichnerischen und druckgrafischen Arbeiten: die Auseinandersetzung mit Literatur der Vergangenheit und Gegenwart, in deren Zentrum der gefährdete Mensch in existenzieller Situation steht, die jüngere deutsche Vergangenheit, Nationalsozialismus, Holocaust, Sozialismus, und die Spuren, die diese Zeiten hinterlassen haben, und letztendlich, meine Heimat, meine Herkunft. An allen drei Themen fasziniert mich die Polarisation der Dinge – das Nebeneinander von Lebendigkeit und Rückbau, aus denen Neues erwächst; die Autonomie der Dinge und Wesen in der Literatur, wobei es mir niemals darum geht, die Texte im Ganzen zu referieren; oder eben das Aufspüren der Reste der jüngsten deutschen Vergangenheit in den Landschaften, die zumeist von der Natur geschönt und vereinnahmt, erst in den kargen Jahreszeiten ihre Geschichte preisgeben.

Es geht mir in meinen Arbeiten um das Aufreißen der Erinnerung, das Festhalten der Geschichte, ohne sich in dieser verlieren zu müssen."
Im Werk von Susanne Theumer stechen der Wille zur Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit hervor: Nur 30 km von Martin Luthers Geburtsort Eisleben 1975 in Halle/Saale geboren, mag dort entstehender Kunst der Genius loci protestantischer Bildernüchternheit an sich eigen und für die Künstlerin selbstverständlich sein. Sie arbeitet ausschließlich schwarz auf weiß, und wenn es Grafik ist, dann ausschließlich in der Technik der Kaltnadelradierung.

Die Kaltnadelradierung entsteht durch Ritzen von Strichen in eine Kupferplatte. In diese Vertiefungen wird später Farbe gewischt, beim Druck saugt feuchtes Büttenpapier unter hohem Druck diese aus den Rillen. ‚Kalt’nadel im Gegensatz zur (chemisch heißen) Ätzradierung, wo nicht direkt in die Kupferplatte, sondern in eine Lackschicht auf derselben geritzt wird – die Vertiefungen in der Platte führt man hier durch ein Säurebad herbei, das den Lack unversehrt lässt und nur an den eingeritzten Stellen das Kupfer angreift.

Kaltnadelradierung heißt also, dass jede Ritzung unkorrigierbar ist, und genau das schätzt Susanne Theumer an dieser Technik: Hier kann man nichts vormachen, nichts abkupfern, nichts vertuschen. In dieser Technik zu arbeiten bedarf großer zeichnerischer Fähigkeit und ebensolcher Selbstgewissheit des eigenen Stils. Die Kaltnadelradierung wurde um 1480 erstmalig eingesetzt, einen ersten künstlerischen Höhepunkt erreichte sie in den Werken Rembrandts, dann in denen von Goya. Im 20. Jahrhundert sind es vor allem Edvard Munch, Max Beckmann, Pablo Picasso und Alfred Hrdlicka, die meisterhafte Kaltnadelradierungen schaffen, und diese Künstler verbindet eine besondere Anteilnahme an der Befindlichkeit der Menschen ihrer Zeit.

Theumer steigert die Authentizität ihrer Arbeiten noch, weil sie mit der Kupferplatte in die Landschaft geht und ihre Eindrücke direkt eingraviert. Ihre Landschaft, die ist das ungleichseitige Dreieck Weimar / Buchenwald, Leuna und Halle:
In ihrer Geburtstadt Halle hat sie an der traditionsreichen Kunsthochschule Burg Giebichenstein eine gründliche Ausbildung absolviert: Schon vor dem Abitur ging sie dort drei Jahre zum Abendstudium, studierte dann am Fachbereich Freie Graphik und war von 2002 – 2004 Meisterschülerin der Professoren Rug und Ruddigkeit. Seit 2004 lebt Theumer mit ihrem Mann, dem Bildhauer Carsten Theumer, und den beiden Kindern in Höhnstedt, einem kleinen Weinort bei Halle. 

Durch Zufall hat sie bei Streifzügen durch die Landschaft in ihrem Nachbarort in alten Kalischächten die baulichen Überreste des KZ Wansleben, einer Außenstelle von Buchenwald, entdeckt, das zu DDR-Zeiten totgeschwiegen wurde (man vermutete dort verborgene Raubgüter des KZ-Kommandanten Höß). Sie hat dieses Gelände zeichnerisch protokolliert und arbeitet u.a. mit dem Eigentümer des Geländes, einem Bauunternehmer, an der Erforschung der Lagergeschichte und der Begehbarmachung des Ortes, auch um den Angehörigen dort Ermordeter einen Ort ihres Gedenkens zu schaffen.

Die Gedenkstätte KZ Buchenwald in Weimar, in der sie regelmäßig zeichnet, plant eine Ausstellung ihrer den Naziopfern gewidmeten Arbeiten.
Im großen Chemiekombinat Leuna haben zu DDR-Zeiten ihre Eltern gearbeitet, schon als Kind ist sie in diesen industriellen Komplex mitgenommen worden, war überwältigt von der Monumentalität der Anlagen. Sie ist als Zeichnerin wiedergekommen, als nach 1989 diese nicht mehr rentabel zu betreibenden Festungen geschliffen wurden, von den Menschen demontiert, die hier einst ihr Auskommen hatten und nun an der Abwrackung ihrer Lebensgrundlage arbeiten mussten, bitter und weitgehend perspektivlos. In ihrer Radierung ‚Masse und Verwandlung im Delirium tremens’ sieht man in das Gesicht eines solchen.

Besagte Radierung ist Teil eines Zyklus, den Theumer 2002 zum Buch „Masse und Macht“ von Elias Canetti geschaffen hat. Canettis Werk hat sie von vorn bis hinten gelesen, sich dann den Arbeiten dessen erster Frau Veza Canetti zugewandt, dann dem von beiden Canettis verehrten Georg Büchner, durch dessen ‚Lenz’ dem Werk des von Goethe gemobten Sturm-und-Drang-Dichters Reinhold Lenz. Ihre grafische Arbeiten zu dessen Gedichte, ausgestellt im Literaturhaus Fasanenstraße Berlin, bekam auch der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész zu sehen, der aufgrund seiner jüdischen Abstammung von den Nazis ins KZ Buchenwald deportiert worden war. Theumer las sich durch Kertész’ Gesamtwerk, und es entstand ein gemeinsames Buchprojekt, das im Verlag Thomas Reche erschienen ist sowie ein (leider vergriffenes) Künstlerbuch mit Radierungen zu Kertész ‚Ich, ein anderer’. 


Last not least hat Susanne Theumer auch für die Büchergilde schon eine Buchillustration geschaffen – das Buch von Marlen Haushofer ‚Die Wand’, das Elke Heidenreich als eines der zehn wichtigsten Bücher ihres Lebens bezeichnete, hat sie so eindrucksvoll mit Kaltnadelradierungen illustriert, dass das Buch zum einen binnen kurzem vergriffen war (es gibt nur noch einige Exemplare der Vorzugsausgabe), sie zum anderen mit diesen und weiteren Arbeiten sowohl ins Stifterhaus Linz als auch in eine Galerie in Haushofers Geburtsstadt Steyr eingeladen wurde.