Johannes Grützke 1
Immer wenn ich ihm in seinem Atelier in Berlin-Schöneberg gegenübersaß, zuletzt Anfang vergangenen Jahres, als er bereits von seiner Krankheit gezeichnet war, verspürte ich eine Mischung aus Faszination, Ehrfurcht und Verlegenheit. Verlegenheit, weil ich dachte, was ist das für ein großzügiger Mensch, der mir Stunden seiner wertvollen Zeit opfert für ein launiges Gespräch über vieles und jenes, einfach nur so, und dem ich bei seiner grandiosen Bildung und seinem unerschöpflichen detaillierten Wissen zu allem, worüber er sprach, nicht das Wasser reichen konnte. Er war ein Forscher!
Hauptgegenstand seines Forschungseifers zur Beschaffenheit von Mensch, Kunst und Gesellschaft war – er selbst. Denn niemanden kannte er besser, niemand gab ihm ehrlichere Antworten, niemanden konnte er gefahrloser mit absolut ungeschminkter Darstellung selbst peinlichster Momente entblößen als sich selbst. So wie der Brecht‘sche Herr Keuner (Keuner ist keiner, keiner ist einer, einer ist Brecht) hat der Forscher Grützke den Herrn Johannes Grützke in seinen Bildern, Zeichnungen, Grafiken gedreht und gewendet, vermessen und gespiegelt, beobachtet und dokumentiert. Herausgekommen ist ein umfassendes Bild des Menschen.
Der Immer-Berliner Johannes Grützke feierte seine größten Erfolge auswärts: zum Beispiel als Bühnenbildner und künstlerischer Berater von Peter Zadek 1985 bis 1988 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, unter anderem inszenierten sie die legendäre Aufführung der Urfassung der „Lulu“ von Frank Wedekind; als Gastdozent an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg und als Professor für Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg; vor allem aber mit seiner monumentalen Ausmalung der Rotunde der Frankfurter Paulskirche, ein Auftrag, den er im Wettbewerb mit der Creme der bundesdeutschen wie der DDR-Kunstszene 1987 gewonnen hatte.
Das 32 mal 3 Meter messende kolossale Gemälde „Der Zug der Volksvertreter“ (in die verfassunggebende Versammlung in der Paulskirche 1848), das täglich bei freiem Eintritt besucht werden kann, bemüht sich nicht, die historischen Abgeordneten zu porträtieren, sondern würdigt das demokratische Parlament als den Ort, wo Hinz und Kunz ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen. Eine entschiedene Stellungnahme für die Egalité!
Dass der nicht anders als genial zu bezeichnende künstlerische Alleskönner und Perfektionist Grützke andererseits auch das Porträt für solch entschiedene Stellungnahmen zu nutzen wusste, davon zeugt z.B. sein mit einem Diamanten radiertes überlebensgroßes Porträt des knapp gescheiterten einzelgängerischen Hitler-Attentäters Georg Elser, den er auf diese Weise dem Vergessen zu entreißen half.
Die Büchergilde, für deren artclub der mit der Lithografie-Druckerei Tabor Presse eng verbundene Künstler zahlreiche Originalgrafiken schuf, hat sich des Öfteren bemüht, dem überfüllten Projekteplan des Künstlers Zeit für eine Buchillustration zu entringen – und glücklicherweise ist das mit der zum 90. Geburtstag der Büchergilde 2014 erschienenen Novelle „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist dann schließlich auch gelungen.
Die Büchergilde hat mit dem Tod von Johannes Grützke einen guten Freund verloren, das ganze Land einen der wenigen, vielleicht den einzigen großen Bildenden Künstler, der ohne jedes Schielen auf Moden, gerade „Angesagtes“, Kunstmarkt und -marketing unbeirrt seine ganz und gar eigenständige Haltung zu Mensch, Kunst und Gesellschaft entwickelte, mit omnipotenten künstlerischen Mitteln, brillantem Intellekt und hintersinnigem Humor. Er ist unersetzbar.